Pronomen und (interdisziplinäre) Wissenschaftlichkeit


July 30, 2025

Zunächst ein Hinweis vorweg: In diesem Text geht es um die Verwendung von Pronomen wie „sie/ihr“ und „er/ihm“ in Bezug auf verschiedene Personengruppen. Ich persönlich verwende diese Pronomen im Alltag im Sinne des schwulen Soziolekts relativ frei. Das heißt: Für femininer auftretende schwule Männer benutze ich häufig „sie/ihr“, es sei denn, die betreffende Person äußert explizit einen anderen Wunsch. Diese Verwendung orientiert sich nicht an der Geschlechtsidentität der Person sondern am gelebten Gender. Es fällt mir daher nicht schwer, trans Frauen oder trans Männer mit den von ihnen gewünschten Pronomen anzusprechen und das tue ich auch konsistent. 
Der YouTuber Baba hat auf seinem Kanal Baba Reagiert gemeinsam mit Sebastian Schnelle über Transgeschlechtlichkeit gesprochen. In diesem Gespräch wurden viele Aspekte berührt, die regelmäßig Teil der öffentlichen Debatte sind. Es ging im Allgemeinen um Ergebnisse interdisziplinärer Arbeit zwischen Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Da auch die Sprachwissenschaft in diesen Diskurs fällt, wurden starke Aussagen über die Verwendung von Alltagssprache unter dem Label „Wissenschaftlichkeit“ getroffen. Es lohnt sich, diese Position genauer zu betrachten, da viele ihrer Elemente die öffentliche Diskussion beeinflussen, und teilweise übertrieben hohe Ansprüche an die eigene Wissenschaftlichkeit und die von anderen gestellt werden. 
Baba behauptet, es gebe „korrekte“ Pronomen. Schnelle widerspricht und sagt, dass es keine wissenschaftliche Frage sei, ob ein Pronomen korrekt für eine Person verwendet werde oder nicht (08:00–11:50). 
Ich beschränke mich im Folgenden auf das Thema Trans und greife das Thema Inter nur insoweit auf, wie es in einem interdisziplinären Dialog in Bezug zu Trans gesetzt werden kann (in der hypothetischen Theorie von Dr. X). Babas Vorstellung scheint zu sein, dass eine Kombination aus Biologie, Psychologie, Medizin, Kultur- und Sprachwissenschaft ein interdisziplinäres „Forschungsfeld“ ergeben könne, das eindeutig klärt, mit welchen Pronomen eine Person zu bezeichnen sei. 
Dazu habe ich drei grundlegende Schwierigkeiten: Das generelle Verhältnis von Alltagssprache und technischen Begriffen aus den Kultur-, Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Die Verwendung rigide bezeichnender Worte. Die Entwicklung neuer/besserer Begriffe für die Wissenschaft. 

1. Technische Begriffe und Alltagssprache 
Es ist ein sprachwissenschaftlich belegbarer Umstand, dass nicht alle Begriffe aus der Wissenschaftssprache in den alltäglichen Sprachgebrauch übernommen werden. Ein klassisches Beispiel sind die Begriffe „Obst“ und „Gemüse“: Wissenschaftlich betrachtet ist die Tomate eine Beere, kein Gemüse. Dieser Umstand macht aber eine Pizza nicht zu einem Obstkuchen. Wer meint, das liege lediglich daran, dass das eine süß und das andere herzhaft sei, der kann die Erdbeere als Beispiel verwenden. Eine Erdbeertorte bleibt eine Obst- und wird keine Nusstorte, auch wenn die Erdbeere wissenschaftlich als (Sammel)Nuss(frucht) gilt. 
Gleichzeitig gibt es Fälle, in denen wissenschaftliche Begriffe die Alltagssprache tiefgreifend beeinflusst haben, z.B. der Temperaturbegriff. Der Unterschied zwischen „warm“ und „kalt“ wurde weitgehend durch den physikalischen Begriff „Temperatur“ ersetzt. Dabei wird Kälte gar nicht mehr als real gesehen. Das liegt wohl daran, dass der Wetterbericht („Heute werden 28 °C erwartet“) oder Waschmaschinenanleitungen („Bei maximal 40 °C waschen“) ein funktionaler Teil unseres Lebens wurden. 
Gestehen wir also (for the sake of argument) zu, dass sich die Alltagssprache gemäß einem wissenschaftlichen Begriff von Frau anpassen kann. Baba verweist im Video auf medizinische und psychologische Guidelines zum Umgang mit trans Personen. Schnelle entgegnet zu Recht, dass diese Guidelines sich nicht mit der Frage was trans ist beschäftigen, sondern mit dem psychischen Wohlbefinden von trans Personen. Das heißt: Wissenschaftlich gesichert ist lediglich, dass die Verwendung der gewünschten Pronomen der psychischen Gesundheit trans Menschen zugutekommt; nicht, was trans Frauen sind oder wie sie zu biologischen Frauen stehen. 
Geben wir Baba mehr Munition für sein Argument. Stellen wir uns hypothetisch eine Forscher*in Dr. X vor, die eine interdisziplinäre Theorie aus Biologie, Psychologie, Medizin, Neurowissenschaft, Sprach- und Kulturwissenschaft entwickelt, in der trans Frauen und cis Frauen unzweifelhaft beide als Frauen gelten. Gehen wir auch davon aus, dass diese Theorie breite Zustimmung findet. In diesem Fall wäre meine bisherige Redeweise von „biologischer Frau“ irreführend oder unsachlich. 
Ein mögliches Argument von Baba könnte also lauten: 
  • Satz aus der Sprachwissenschaft: „Nach deutscher Grammatik wird für Männer ‚er/ihm‘ und für Frauen ‚sie/ihr‘ verwendet.“
  • Satz aus der Wissenschaft (Dr.X): „Trans Frauen sind Frauen.“
  • Interdisziplinäre Konklusion: „Für trans Frauen wird grammatikalisch korrekt ‚sie/ihr‘ verwendet.“
Wer also für trans Frauen nicht „sie/ihr“ verwendet, begeht einen Grammatikfehler und spricht kein korrektes Deutsch – so zumindest das Argument. Dieses überzeugt jedoch nur wenig, denn der erste Satz beschreibt die Grammatik vor Dr. X. Es gibt hier also eine Zeitdimension, die in eine logische Dimension übergeht, weil sich die Bedeutung von „Frau“ verändert.

Das führt zu zwei weiteren Schwierigkeiten, stark davon abhängen, ob Dr. X etwas Neues über Frauen entdeckt hat oder einen neuen Begriff von Frau eingeführt hat.


2. Es wurde etwas Neues entdeckt

Wenn Dr. X etwas Neues über Frauen herausgefunden hat, dann könnte Baba annehmen, dass trans Frauen schon immer Frauen gewesen seien, nur wurde das bisher nicht erkannt. Das hätte zur Folge, dass auch vor Dr. X inkorrektes Deutsch gesprochen wurde, wenn trans Frauen mit „er/ihm“ bezeichnet wurden.

Ein gutes Beispiel für so eine Revision ist die Identifikation von Eis als Aggregatzustand von Wasser. Im Mittelalter galt Eis nicht als Wasser. Es wurde als „versteinert“ angesehen, d.h. als Erde, weil man Festigkeit mit Trockenheit (Erde) und Flüssigkeit mit Feuchtigkeit (Wasser) verband. Erst mit der Identifikation von Wasser mit H₂O wurde klar, dass Eis dasselbe wie Wasser ist.

Wie war das möglich? In der Sprachphilosophie/Logik spricht man bei Begriffen wie „Wasser“ von rigiden Bezeichnungen: Ihre Bedeutung bleibt über alle Möglichkeiten hinweg gleich. Das liegt daran, dass „Wasser“ ostentativ (durch Zeigen) definiert wurde, z. B.: „Das da im See ist Wasser.“ Die Bedeutung folgt also dem Objekt, nicht einem Begriff. Es ist daher möglich, dass sich die Begriffe radikal ändern, aber man dennoch noch über dasselbe spricht.

Für Freunde von Kuhn und Feyerabend gibt es diesen Fall gar nicht. Da deren Vorstellungen von Inkommensurabilität (Unvergleichbarkeit) von Theorien darauf aufbauen, dass Worte in der Wissenshaft nicht rigide bezeichnen, sondern immer Begriffe bedeuten.

Bezeichnet das Wort „Frau“ rigide? Damit es das kann, müssen uns Frauen auf eine direkte Weise gegeben sein, z. B. darüber, dass sie schwanger werden können und gewisse Genitalien haben. Wenn „Frau“ aber nicht diese Menschengruppe bezeichnet, sondern die wirkliche Bedeutung erst mühsam über interdisziplinäre Untersuchungen erkannt werden muss, dann ist es schwer zu sehen, wie „Frau“ rigide bezeichnen kann. Wenn „Frau“ aber rigide bezeichnet, dann bedeutet das Wort wohl keinen Begriff aus der interdisziplinären Wissenschaft, sondern die biologischen Frauen. In diesem Fall wäre die Theorie von Dr. X entweder falsch, oder es gibt zwei Arten von Frauen: die Frauen der Alltagssprache und die Frauen der Wissenschaft. Diesen Fall kennen wir schon – mit „Beere“ und „Nuss“ für die Erdbeere, je nach Kontext im Alltag oder in der Wissenschaft.


3. Ein neuer wissenschaftlicher Begriff ersetzt den alten

Eine zweite Möglichkeit ist die Einführung eines neuen Begriffs von Frau, der das bisherige Verständnis verdrängt, indem er sich als überlegene wissenschaftliche Alternative präsentiert. Mein Beispiel hierfür was Temperatur als Ersatz für Kälte und Wärme.

Kann ein neuer Begriff von Frau auch die Alltagssprache verändern? Die Grammatik des Deutschen wurde lange vor der Einführung eines solchen Begriffs beschrieben. Babas Argument ist daher kein klassisches (deduktives) Argument, sondern eher ein Aushandlungsprozess zwischen zwei Wissensbereichen. Die Sprachwissenschaft möchte ihre Beschreibung beibehalten, die Vertreter um Dr. X ihren neuen Begriff. Die interdisziplinäre Konklusion ist dann ein Kompromiss.

In komplexen Bereichen ist es tatsächlich üblich, Kompromisse zu schließen. Doch in unserem Fall betreffen die Theorien unterschiedliche Untersuchungsgegenstände: Die Sprachwissenschaft beschreibt die Grammatik über den Sprachgebrauch (der Duden wird regelmäßig angepasst), aber die Theorie von Dr. X will beschreiben, was eine Frau ist. Frauen sind jedoch kein Teil der Grammatik. Deshalb besteht kein logischer Zwang zur Übereinstimmung. Die Grammatik könnte weiterhin trans Frauen das Pronomen „er/ihn zuweisen, während Dr. Xs Theorie gleichzeitig wahr ist, ohne Widerspruch.

Aber wäre so ein Szenario realistisch/legitim? Angenommen, Dr. Xs Theorie wird wissenschaftlich anerkannt, dann könnte trotzdem „er/ihn“ im Alltag an trans Frauen haften bleiben. Denn der Sprachgebrauch folgt anderen Interessen als die Wissenschaft. Den meisten Sprechern geht es nicht darum, etwas über Frauen herauszufinden, sondern sich verständlich zu machen. Auch politische oder gesellschaftliche Faktoren spielen dabei eine Rolle. Erdbeeren mit Himbeeren, Aprikosen und anderen Früchten von Wahlnüssen abzugrenzen macht Sinn, wenn man im Sommer eine fruchtige Obsttorte und keine schwere Nusstorte essen will. Wenn der Sprachgebrauch konstant bleibt und die die Theorie von Dr. X angenommen wird, dann wird die Sprachwissenschaft diesem Faktum Rechnung tragen müssen und folgenden Satz als wahr erkennen:

„Für einen Teil der Männer gilt ‚er/ihm, für einen Teil der Frauen ‚sie/ihr‘; bei trans Personen sind beide Formen abhängig vom Sprecher gebräuchlich.“

Oder näher am Beispiel von „Beere“ und „Nuss“.

„Für jene Frauen, die im Deutschen ‚Frauen‘ genannt werden, wird ‚sie/ihr‘ verwendet, für den anderen Teil der Frauen, die im Deutschen ‚Transfrauen‘ oder ‚trans Frauen‘ genannt werden, wird sowohl ‚sie/ihr‘ als auch ‚er/ihn‘ verwendet je nach Sprecher und Kontext.“

Ob es so kommt, bleibt offen. Vielleicht gibt es Dr. Xs Theorie nie, oder die Sprachgemeinschaft verhällt sich anders.


Nachwort

Ich habe in diesem Text nicht behauptet, dass trans Frauen keine Frauen sind. Und ich habe nicht behauptet, dass man trans Männer nicht mit „er/ihm“ oder trans Frauen nicht mit „sie/ihr“ ansprechen soll. Ich habe lediglich untersucht, welche Auswirkungen wissenschaftliche Erkenntnisse über Geschlecht auf die Alltagssprache haben könnten. Eine Theorie wie jene von Dr. X existiert meines Wissens bislang nicht. Doch auch ohne eine solche Theorie kann sich die Sprachgemeinschaft entscheiden, trans Frauen (konsistent) mit „sie/ihr“ anzusprechen und dafür gibt es Gründe. Ich habe auch keine Aussagen über Sport, Toiletten oder Umkleiden getroffen.